Heinz Cibulka   fotografische arbeiten / photographic works interdizipinäre arbeiten / interdisciplinary work digitale bildcollagen / digital collages publikationen / publications texte / texts biografie / biography

... texte | texts

|| menu ||

 


Gerhard Roth

Heinz Cibulka - Der Blick

 

aus: Gerhard Roth – Über Bilder, Österreichische Malerei nach 1945

im Katalog: obraz #, 2007



Die Ränder der Wahrnehmung sind enthüllend. Das vorgeblich "Wichtige" ist das Inszenierte, das sogenannte "Nebensächliche" spielt sich bloß ab. Zumeist, wie es heißt, unbemerkt. Aber die Summe des Unbemerkten, die Kettenreaktion der alltäglichen, belanglosen Ereignisse, setzt eine Wirklichkeit zusammen, die EINBLICK gewährt in ihre Vielschichtigkeit und Vielgestaltheit. Cibulkas Form festzuhalten ist die Hundertstelsekundendichtung mit der Kamera. Er "befasst" sich nicht bloß mit dem Nebensächlichen, er stellt es nicht nur dar, sondern ist ihm verfallen. So wird das Nebensächliche zum Wesentlichen, Cibulka erlöst die Fotografie vom Motiv, vom vorgeschriebenen Bild. Anstelle des Bildes tritt der Blick. Cibulka negiert die Eigenkraft der Kamera. Er "informiert" nicht, zeigt uns keine "Absonderlichkelten", keine "Schönheiten", er lässt die Kamera und den Fotografen vergessen. Er suggeriert das Dabei-sein, das Erleben, das Erfahren des Alltäglichen als das Eigentliche. Sein idealer Fotoapparat wäre eine mechanische Kontaktlinse, die durch den Gedanken "ausgelöst" wird. Cibulka ändert nichts. Er stellt Fundstücke aus und kombiniert sie mit Fundstücken. Er belichtet, beleuchtet, beschattet, stativiert nicht, zoomt nicht, verzerrt nicht - er registriert und nähert sich. Er sucht nicht die Exotik - er meidet sie. Das, was ist, das Allernächste, enthüllt er als "exotisch". Wir "über-sehen". Die erstaunlichsten und wichtigsten Entdeckungen sind mit dem Alltag verbunden, Wir sind ihm ausgeliefert und so nahe, dass wir alltags-"blind" geworden sind, Cibulkas Bilder haben die Unverwandtheit des ersten Blicks. So haben wir als Kind geschaut, wenn eine Motorhaube geöffnet wurde, die erste Kuh sich zeigte, man zum erstenmal in eine Baumkrone kletterte. "Lass mich schauen" ist ein ungehaltener Ausdruck, wenn man beim Wahrnehmen gestört wird, Cibulka schaut detektivisch. Sein Blick bleibt an Einzelheiten "HÄNGEN". Er kombiniert, er spürt auf. Die Hinweise, die zuletzt ERHELLEN, liegen in einem Nebensatz, einer Fußspur, einem Kopfpolster verborgen. Überall sind die Menschen präsent, selbst "Naturstudien" sind Menschenstudien, Der Himmel ist Wetter, der Apfel vor oder nach dem Aufklauben festgehalten, Tiere und Pflanzen sind zu Speisen gekocht oder kommen als Speisen auf den Tisch. Aus den vielfältigen Spuren offenbart Cibulka Lebens- und Daseinsformen. Er ist nicht vordergründig und kein Ethnologe. Er stellt Gemeinsamkeiten her, man erkennt WIEDER. Es gibt kein Bild Cibulkas, das man SO nicht gesehen hätte, im Gegenteil: SO sieht man und ÜBERSIEHT. Eine andere Methode des inneren Lidöffnens ist für Cibulka die fast spielerische Erweiterung des Gesehenen in das Kosmische. Cibulka fotografiert wissenschaftliche Abbildungen aus Lehrbüchern und kombiniert sie mit seinen Schnappschüssen", die nicht geschnappt und geschossen sind, sondern blitzartig aufgespürt. Die wissenschaftlichen Abbildungen verdichten den Zusammenhang. Eine Arbeitsameise, die anatomische Darstellung der Halsmuskelnerven und -gefäße, die Zellteilung oder das menschliche Auge sind wundersam wie das alte Ehebett, die Fraßspur des Borkenkäfers, ein Hut. Dabei beeindruckt der Wechsel von Ferne und Nähe: Manches sehen wir von weitem, wie wenn wir uns nicht recht an das Ereignis herangetrauten, vieles aus unmittelbarer, größter Nähe. Man will ja NAHE SCHAUEN, mit dem Auge immer näher, noch näher "heran". Manchmal traut man sich nicht hinzuschauen, aber man muss. Cibulka führt uns nicht mehr oder weniger vor, als wie wir schauen. Jede Fotografie enthält den Hinweis, wie wir sehen, übersehen, registrieren, beiseiteschieben. Cibulka hat keine vorgefasste Theorie, er lässt Theorie entstehen. Auf diese Weise spart er weder Telegrafenleitung noch Kinderturnfest aus, nicht das Zeichen der Raiffeisenkassa oder eine Zeitung auf einem Küchensessel. Er bedient sich bei seinen Bildkombinationen der Methode des vom Markensammeln her bekannten Viererblocks.

Es entsteht keine geschönte, "gereinigte" Welt, sondern es fügen sich Bruchstücke von Ordnung im Chaos und umgekehrt zusammen. Es lebt.

Gerhard Roth, 1990


| top |